Nano macht Schule

Das Naturwissenschaftsteam der Bez Muri hat allen 3.Klassen einen Einblick in die Nanotechnologie gewährt.

Bericht der NZZ

Mit Windeln gegen den Fachkräftemangel

Der Kanton Aargau geht mit einem Pilotprojekt voran: Er lässt die Oberstufenklassen mit Nanotechnologie experimentieren – zum Beispiel mit Windeln. Damit will er die Freude an technisch-naturwissenschaftlichen Fächern fördern. Die Schülerinnen und Schüler sind begeistert.

Jörg Krummenacher, Muri 24.11.2018, 05:30 Uhr

Feuer und Flamme für die Nanotechnologie: experimentieren im Unterricht an der Bezirksschule Muri. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

«Babys pinkeln und pinkeln und pinkeln», sagt die Lehrerin Monica Drigo. Sie verteilt den Schülerinnen und Schülern ihrer dritten Bezirksschulklasse Windeln und fordert sie auf, diese vorsichtig aufzuschneiden. Dann nehmen die Jugendlichen Watte und Pulver heraus, legen beides in eine Plastikfolie, lösen das Pulver sorgfältig von der Watte, lassen es in einen Becher rieseln und geben Wasser bei. Sofort verklumpen Pulver und Wasser. Ein Gramm Pulver kann, wie sich zeigt, etwa einen Deziliter Wasser verklumpen – das Hundertfache seines Gewichts. In eine Windel mit rund sechs Gramm Pulver passen somit gut und gerne sechs Deziliter Flüssigkeit, ohne dass der Babypopo nass wird. Wie das geht? Nanotechnologie.

Mint-Fächer attraktiv vermitteln

Der Windeltest ist eines von 32 Experimenten, die in einem Koffer namens «Simply Nano 2» enthalten sind. Die Bezirksschule im aargauischen Muri ist die erste, die diesen Experimentierkoffer im Unterricht nutzt. 550 Koffer hat der Kanton Aargau auf das laufende Schuljahr hin angeschafft; in tausend Klassen sollen sie etappenweise im Unterricht oder in besonderen Projektwochen eingesetzt werden. In acht Kursen wurden bisher 99 Lehrpersonen instruiert.

Die Kosten von 400 000 Franken werden hälftig vom Kanton und von einer Reihe von Sponsoren getragen. Der Aargauer Bildungsdirektor Alex Hürzeler sieht die Nano-Koffer als innovatives und zukunftsweisendes Pilotprojekt, um das Interesse der Lernenden an Nanotechnologie und an möglichen Berufsfeldern im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich zu wecken. Im sogenannten Mint-Bereich, also in den Berufsfeldern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, ist der Fachkräftemangel besonders akut.

«Wow, mega faszinierend»: Zwei Schülerinnen studieren die Anleitung für ein Experiment an Posten 6. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Die Lehrkräfte stehen vor der Herausforderung, diese Bereiche im Schulalltag attraktiv zu vermitteln. Für die Lehrerin Monica Drigo ist klar: «Die Schüler müssen Spass haben, Freude bekommen.» Der neue Lehrplan 21 sieht denn auch vor, dass die Lernenden «selber Naturwissenschaften betreiben, indem sie genau beobachten, eigene Fragen stellen und Phänomene selber erforschen». Die Nanotechnologie als Querschnittstechnologie eignet sich gut dafür.

Tüfteln im Mini-Labor

In Muri setzt die Bezirksschule den auf den Lehrplan 21 abgestimmten Lernkoffer fächerübergreifend ein und hat eigens den Stundenplan umgestellt, um «Simply Nano 2» für alle Klassenzüge nutzen zu können. Nach dem Windeltest lässt Monica Drigo ihre Klasse an mehreren Posten selbständig weitere Experimente durchführen. Der Blick in den Koffer öffnet einen Reigen ungefährlicher Experimentierfelder mit diversen Stoffen: Pfauenfedern, Granulate in Pulverform, Büroklammern, die sich auseinanderbiegen und unter Feuer wie von Zauberhand wieder ihre Ursprungsform annehmen, Brandmelder sowie allerhand Mittelchen und Pülverchen, die in Kosmetika, Textilien oder Verpackungen enthalten sind.

Der Gecko als Anschauungsobjekt im Schulzimmer. Seine Füsse sind Vorlage für die Entwicklung von Haftmaterial. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Der lebendige Gecko, der sich an der Glaswand eines Terrariums bewegt, stammt selbstredend nicht aus dem Koffer. Er hilft zur praktischen Veranschaulichung des Gecko-Effekts, der besonderen Haftkraft seiner Füsse. Die Klasse testet weitere Effekte – den Lotus-, den Salvinia- und den Flip-Flop-Effekt –und prüft Hochleistungs-Isoliermaterial. Die Lernenden sind konzentriert bei der Sache, die Schulstunden vergehen wie im Flug. «Mega cool», lauten Kommentare zur neuen Unterrichtsform, «mal etwas anderes», «lebensnah», «spannend», «abwechslungsreich», «macht Lust auf mehr». Nanotechnologie habe sich zunächst nicht attraktiv angehört, meint eine Schülerin. Nun sagt sie: «Wow, mega faszinierend.»

Aufbringen einer Russschicht, um eine wasserabstossende Oberfläche zu erzeugen und den «Lotus-Effekt» zu untersuchen. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Image verbessern

Entwickelt wurden die Koffer von der Innovationsgesellschaft St. Gallen im Auftrag der Simply-Science-Stiftung, die sich der Förderung der Naturwissenschaften verschrieben hat. «Unser Ziel ist», sagt Christoph Meili, der Geschäftsführer der Innovationsgesellschaft, «dass die Jugendlichen merken, welche Möglichkeiten es im Bereich der Mint-Berufe gibt.» Nicht zuletzt soll deren Image verbessert werden – vor allem bei den Mädchen.

Skeptisch war anfangs der Aargauische Lehrerinnen- und Lehrerverband, der mit Blick auf das Sponsoring Schleichwerbung durch Unternehmen befürchtete. Der Nano-Koffer ist indes frei von jeglichem Werbematerial. Nun soll er, so hoffen Meili wie auch die Stiftung, Verbreitung über den Aargau hinaus finden: Sie denken an einen möglichst schweizweiten Einsatz ihres naturwissenschaftlichen Lernmediums.

Hier entsteht Russ auf einer Metalloberfläche . . . (Bild: Annick Ramp / NZZ)

. . . und hier auf einer Glasoberfläche. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Eine Schülerin untersucht unter dem Mikroskop die Blattoberfläche der Salvinia-Pflanze (Schwimmfarn). Die schneebesenartigen Haare der Pflanze haben nanoskalige Strukturen. Damit kann die Pflanze auf der Blattoberfläche ein stabiles Luftpolster bilden. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Salvinia-Pflanzen in einem Glasgefäss. Sichtbar sind die Blätter mit den Schneebesen-Haaren auf ihrer Oberseite. Mit einer ähnlichen Beschichtung sollen Schiffsrümpfe ausgestattet werden: Durch das permanente «Luftpolster» am Unterwasser des Schiffes kann die Reibung reduziert und dadurch Treibstoff eingespart werden. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Der Koffer «SimplyNano2». Er enthält alle notwendigen Materialien für 32 Nanotechnologie-Experimente. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Ein Schüler arbeitet an einer mobilen Abzugsanlage, um die Wärmeleitfähigkeit von Aerogel-Isolationsmatten zu untersuchen. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Die beiden Schülerinnen an Experimentierposten 6 haben die Anleitung fertig studiert und lassen Wassertropfen abperlen. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Die Wasserperlen kommen auf getrocknete, wasserabstossende Blätter der Lotus-Pflanze. Rollen die Tropfen ab, bleiben Schmutzpartikel an ihnen kleben. Dadurch reinigt sich die Oberfläche selbst – ein Effekt, der bei Textilien, Hausfassaden und weiteren Oberflächen genutzt wird. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Schutzbrillen gehören in jedem Fall dazu. Die Experimente im Schulzimmer sollen vor allem eines sein: ungefährlich. (Bild: Annick Ramp / NZZ)

Kohlenstoffatome in einem Modell eines Fullerens – fussballähnliche Moleküle, die aus Kohlenstoffatomen bestehen. Fullerene gehören zu Nanomolekülen, die sich für den Wirkstoffeinsatz in der Medizin eignen. (Bild: Annick Ramp / NZZ)